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Rezension zu Eduard von Keyserlings »Landpartie« – Sammelband seiner sämtlichen Erzählungen

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Lesezeit: ca. 7 Minuten (300 WpM)

»Landpartie« – benannt nach einer seiner Erzählungen versammelt der Manesse Verlag zum 100. Todestag von Eduard von Keyserling seine sämtlichen Erzählungen in einem bibliophilen Sammelband. Keyserling war ein feiner Beobachter, der zwar langsam erblindete, aber dem dennoch oder vielleicht gerade deswegen aus seiner Zeit kaum etwas entging. Seine Geschichten zu lesen, bedeutet, gänzlich in eine andere Zeit einzutauchen. Die anmutige Schönheit, die genauen Beschreibungen und die melancholische Stimmung seiner Texte haben auch heute nichts von ihrer Magie verloren.

Zum 100. Todestag Eduard von Keyserlings, dem am häufigsten wiederentdeckten Autor der deutschsprachigen Literatur, erschien am 28. September 2018 dieser wunderschön gestaltete Liebhaberband. Bücherfreunde können dem Manesse Verlag und der Recherchearbeit von Antonie Alm-Lequeux, Gabriele Radecke und vor allem Klaus Gräbner wirklich dankbar sein für diesen Schatz, denn erstmals sind hier sämtliche (37) Erzählungen und Novellen des Autors versammelt und dankenswerterweise in chronologischer Reihenfolge abgedruckt worden. Bei den Erzählungen »Nur zwei Tränen« (1882), »Mit vierzehn Tagen Kündigung« (1882), »Das Sterben. Ein Sommerbild« (1885), »Im Rahmen. Skizze« (1906) und »Gebärden« (1906) handelt es sich sogar um nie zuvor in Buchform erschienene Neuentdeckungen, die bisher nur zu Keyserlings Lebzeiten in Zeitschriften veröffentlicht wurden.

Die Titel aller in dem Band enthaltenen Erzählungen lauten: »Nur zwei Tränen« (1882), »Mit vierzehn Tagen Kündigung« (1882), »Das Sterben. Ein Sommerbild« (1885), »Grüß Gott, Sonne!« (1896), »Grüne Chartreuse« (1897), »Die Soldaten-Kersta« (1901), »Der Beruf« (1903), »Schwüle Tage« (1904), »Harmonie« (1905), »Sentimentale Wandlungen« (1905), »Im Rahmen. Skizze« (1906), »Seine Liebeserfahrung« (1906), »Gebärden« (1906), »Die sentimentale Forderung« (1906), »Osterwetter« (1907), »Die Verlobung« (1907), »Geschlossene Weihnachtstüren« (1907), »Frühlingsnacht« (1908), »Landpartie« (1908), »Bunte Herzen« (1908), »Föhn« (1909), »Winterwege« (1909), »Prinzessin Gundas Erfahrungen« (1910), »Am Südhang« (1911), »Nachbarn« (1911), »Die Kluft. Zwei Dialoge« (1911), »Das Landhaus« (1913), »Vollmond« (1914), »Schützengrabenträume« (1914), »Nicky« (1915), »Verwundet« (1915), »Der Erbwein« (1916), »Pfingsrausch im Krieg« (1916), »Das Kindermädchen« (1916), »Das Vergessen« (1917), »Die Feuertaufe« (1917), »Im stillen Winkel« (1918).

Während die Erzählung »Am Südhang« ganze 69 Seiten umfasst, kommen die meisten anderen mit nur wenigen Seiten aus. Die Erzählung »Grüß Gott, Sonne!« aus dem Jahr 1896 ist sogar nur vier Seiten lang, hat mich aber nicht weniger bewegt. Sie handelt von einer jungen Verkäuferin, die sich aus Liebeskummer umbringen will, deren Selbstmordversuch allerdings in großer Lebensfreude endet. Die 40-seitige Leseprobe gewährt schon einen tiefen Einblick in das Buch und macht sicherlich Lust darauf, mehr zu lesen.

Gleich in der ersten Erzählung »Nur zwei Tränen« aus dem Jahre 1882 gelingt es Eduard von Keyserling hervorragend, über zwei der prägendsten menschlichen Erfahrungen zu schreiben: die Jugend und den Tod. Keyserlings Erzählstil ist verdichtet und sinnlich, nie kitschig. Seine Landschaftsbeschreibungen schicken seine Leser auf Reisen. Wie gerne habe ich mich durch die folgende Beschreibung zurück ans geliebte Meer reißen lassen und wie sehr habe ich dann den jähen Schmerz des Verlustes ebenfalls fühlen können:

Da stand ich auf der Düne. Unter meinen nackten Füßen fühlte ich den warmen Sand; in meinen Haaren wühlte der Seewind, und vor mir lag das Meer, die weite blaue Fläche, ganz mit goldenen Sonnenflittern überstreut. Große, durchsichtige Wellen stiegen auf, warfen ihre weißen Schaummützen empor, und ein Jauchzen und Rauschen scholl herüber, dem ich schweigend, lächelnd, mit klopfendem Herzen lauschen musste. Hoch im lichtvollen Himmelsblau hing eine Möwe, eine zitternde weiße Flocke.
»Nur zwei Tränen« von 1882 / Seite 7

Zu Eduard von Keyserlings zeitgenössischen Bewunderern zählten Thomas Mann, Lion Feuchtwanger und Rainer Maria Rilke. Auch Hermann Hesse war von seinen Texten fasziniert und nannte ihn einst »Meister der Dämmerung«. Diese Bezeichnung passt perfekt auf einen Mann, der mit großem Einfühlungsvermögen seine Zeit beschrieb und dessen Geschichten in all ihrer federleichten Art stets auch etwas Tragisches haben. Diese gegensätzlichen Stimmungen auszuloten, die im Leben allerdings tatsächlich oft nah beieinander liegen, bedarf es wahrlich eines Meisters der Schreibkunst.

Eduard von Keyserling war ein moderner Erzähler, der zwar seine Zeit beschrieb, aber auch schon ihren Untergang in vielen Andeutungen vorwegnahm bzw. ihren Verfall auf seine Weise dokumentierte. Seine sinnliche Erzählkunst verführt seine Leser leicht, in seine tragikomischen, träumerischen und zeitentrückten Geschichten einzutauchen. Oft wird er mit Theodor Fontane verglichen und tatsächlich ähnelt seine Art der Gesellschafts- und Landschaftsbeschreibung denen des großen märkischen Dichters.

Erzählerische Finesse und eine feine Mischung aus Leichtigkeit und Melancholie zeichnen die Texte des großen europäischen Erzählers Eduard von Keyserling aus. Seine Formulierungen sind so schön, treffend und geistreich, dass ich nur mehr und immer mehr davon lesen will. Schon Hermann Hesse schrieb 1909: »[Keyserling] versteht einen Sommernachmittag so zu beschreiben, dass man während seines Glühens und Verdämmerns das Gefühl des ganzen Lebens hat.« In der Titelerzählung »Landpartie« gelingt es dem bereits erblindeten Mann, in leuchtenden Farben seine Szenen mit Leben zu füllen und seine Leser geradewegs hineinzuversetzen in diesen schwülen Sommerabend auf dem Lande, der in so eigenartiger Stimmung endet:

Der zu Ende gehende Tag über der weiten Ebene, die Musik der abendlichen Mücken, all das breitete, ich weiß nicht welche, enttäuschende Alltäglichkeit über diese Gesellschaft. […] Ria war einsilbig; sie schaute auf die Ebene hinaus, auf das leise Nicken der Halme, auf das sanfte und freie Atmen der Weite in dem roten Lichte. In der rosa Luft hingen Lerchen, und all das erschütterte und quälte sie, es war so ungewohnt groß und friedlich, und sie fühlte darin die komplizierte Enge ihres Lebens wie etwas schmerzhaft Bedrückendes. […] Die Sonne ging hinter dem Waldsaum unter, eine farbige Erregung zitterte über das stille Land, der Bach wurde ganz rot, und die blühende Wiese lag da wie rotes Gold. In der Gesellschaft schwiegen plötzlich alle, hoben die Gesichter, lächelten mit halbgeöffneten Lippen, als wollten sie das farbige Leuchten in sich hineintrinken.
»Landpartie« von 1908 / Seite 276 – 278

Eduard von Keyserlings Leben war durch die früh diagnostizierten Krankheiten Syphilis und Rückenmarksschwund geprägt. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er größtenteils ans Bett gefesselt in der Drei-Zimmer-Wohnung in der Münchner Ainmillerstraße 19, die er mit seinen beiden Schwestern bewohnte. Ihnen diktierte er nun seine Geschichten, ohne zu wissen, ob die aktuelle eventuell schon die letzte sein mochte. Seine Schwestern Henriette (1839–1908) und Elise (1842–1915) wurden ebenfalls als Schriftstellerinnen bekannt.
Viel ist von Liebe und Romantik in Eduard von Keyserlings Texten die Rede, doch für seine Zeit ungewohnt offen hat er traditionelle Geschlechterrollen hinterfragt. Wie sein Verhältnis zu Frauen war, beschreibt der letzte Satz aus seiner Erzählung »Die Feuertaufe«, die ein Jahr vor seinem frühen Tod entstand, aber vielleicht sehr treffend:

»Seltsam […], aber ich habe das stets gewusst, über die Frauen dürfen wir nicht nachdenken, das verwirrt nur, wir müssen sie über uns ergehen lassen wie das Schicksal – und das Schicksal verstehn wir auch nicht.«
»Die Feuertaufe« (1917) / Seite 602

Eduard von Keyserling war ein ostpreußischer Graf. Auf Schloss Paddern, im Kurland, westlich der heutigen lettischen Hauptstadt Riga gelegen, wurde er 1855 als Sohn eines Landrats geboren. Nach dem Verlust der Heimat ist das Adelsgeschlecht Keyserlingk heute in der ganzen Welt verteilt. Von der baltischen Ostsee zog Eduard von Keyserling als junger Mann über Stationen in Wien und Italien nach München, doch seine Geschichten waren zeitlebens angefüllt mit der Weite der baltischen Landschaft, dem Rauschen des Meeres und dem Flirren der heißen Sommer. Seine Beschreibungen leuchten und glühen und sind so sehr Ausdruck einer tiefen Sehnsucht, dass man diese beim Lesen nur mit dem Verfasser teilen kann.

Mit »Landpartie« brachte der Manesse Verlag tatsächlich eine besonders schöne, bibliophile Ausgabe heraus. Da sie 744 Seiten zählt, ist die Papierstärke eher gering, aber die Seiten sind auch nicht zu dünn. Sie lassen sich gut blättern, ohne zu verknicken. Das Buch ist in naturfarbenes Leinen gebunden, mit türkisfarbener Schrift bedruckt und mit einem blauen Lesebändchen versehen. Den mattglänzenden Schutzumschlag ziert das 1907 entstandene und äußerst passende Bild »Kühns Kinder und Miss Mary im Grünen« des Kunstfotografen Heinrich Kühn.
Auf 653 Seiten finden sich die 37 Erzählungen des Autors, gefolgt von etwa 55 Seiten mit Kommentaren des Herausgebers des Buches Horst Lauinger. Eduard von Keyserling verfügte in seinem Testament die Vernichtung seines literarischen Nachlasses, also aller Skizzen, Manuskripte, Korrekturbögen sowie seiner Korrespondenz und Notizen. Aus diesem Grund beschränkt sich der dennoch umfangreiche Kommentarteil weitestgehend auf Angaben zu Ersterscheinung, Übersetzung und ggf. Verfilmung sowie dem Versuch der Verortung der einzelnen Erzählungen. Das Nachwort von Florian Illies, Fotografien des Autors und damaliger Zeitungsberichte, eine biografische Zeittafel, eine editorische Notiz, eine Übersicht zu zitierter und konsultierter Literatur sowie ein Inhaltsverzeichnis runden das Werk ab.

Fazit: Wenn ich mich mit diesem Buch zurückziehe, versetzt mich die Vorfreude, in Keyserlings Worte eintauchen zu dürfen, bereits in fast feierliche Stimmung. Wie schön ist es, der Stimme dieses blinden Mannes zu lauschen, der mit seinen Worten die Bilder der Vergangenheit in leuchtenden Farben heraufbeschwört. Sich deren Zauber zu entziehen ist praktisch unmöglich. Chronologisch gelesen, ist es fast so, als hätte der Verlust der Sehkraft den Schriftsteller in die Lage versetzt, seine literarische Welt noch präziser, leuchtender und sinnlicher zu beschreiben. Auch wenn er manchmal nur in der Erinnerung noch sehen konnte, war Keyserling ein ungemein feiner Beobachter, der uns neben meisterlicher Literatur genaueste Beschreibungen der Gesellschaft seiner Zeit hinterließ. In den Schilderungen zwischenmenschlicher Beziehungen und vollendet schöner Natur schwingt immer eine tiefe Sehnsucht mit, die sich auf den Leser überträgt. Wahr ist, dass ich mich, wenn ich gerade zur blauen Stunde aus dem Buch aufgeblickt habe, wenn die Sonne den Himmel gerade verlassen hat, in Gedanken versuchte, diese Schönheit mit seinen Worte zu beschreiben. Seine Wortmalerei, seine stimmigen Dialoge, seine elegante, poetische Sprache, seine eindrücklichen und sinnlichen Beschreibungen haben mich verzaubert, so dass ich nun auch die anderen Werke des Autors lesen muss.
Der Erzählband »Landpartie« ist mehr als nur eine Aneinanderreihung von Erzählungen. Das Buch mit seinen umfangreichen Anhängen ist eine bibliophile Fundgrube, die zum Stöbern einlädt. Alle wahren Bücherfreunde wird dieser Liebhaberband sicher erfreuen. Ich kann ihn – nicht nur als Weihnachtsgeschenk – sehr empfehlen.

Eduard von Keyserlings Erzählband »Landpartie« ist im September 2018 mit einem Nachwort von Florian Illies für EUR 28,00 im Manesse Verlag erschienen – gebunden, 744 Seiten, ISBN 978-3717524762.
Eine Leseprobe finden Sie hier.

Außerdem im Manesse Verlag erschienen sind folgende Ausgaben Eduard von Keyserlings – ebenfalls als bibliophile Ausgaben in Leinen gebunden und jeweils mit Schutzumschlag:
– Am 13. November 2017 erschien eine limitierte Geschenkausgabe im Schuber mit den drei Romanen »Wellen«, »Fräulein Rosa Herz« und »Dumala« (ISBN: 978-3717524649).
– Am 17. April 2017 erschien der Roman »Fürstinnen« mit Nachwort von Jens Malte Fischer (ISBN: 978-3717524366). Es war Keyserlings letzter Roman, der 1917, ein Jahr vor seinem Tod, erschien.
– Am 23. September 2013 erschien der Roman »Beate und Mareile« mit Nachwort von Uwe Timm (ISBN: 978-3-7175-2292-8).


Fotografie undatiert
(Bayerische Staatsbibliothek / Nachlassreferat)

Über den Autor: Eduard von Keyserling, geboren im Jahr 1855, war ein deutscher Schriftsteller des Impressionismus. Er stammte aus einem altem kurländischem Geschlecht und studierte Jura in Dorpat und Kunstgeschichte in Wien und Graz.
Er lebte zunächst in Wien, ehe er sich nach einer ausgedehnten Italienreise als Autor in München niederließ und in der Schwabinger Bohème verkehrte.
In seinem Erzählwerk, das zum Stilvollsten gehört, was die deutschsprachige Literatur zu bieten hat, setzte er der Welt von gestern ironisch funkelnde Denkmale.
Am 28. September 1918 starb der schwerkranke Mann im Alter von 63 Jahren.


Laila Mahfouz, 29. November 2018

Links:

Die Rechte der Fotos liegen beim Manesse Verlag.

Informationen auf den Seiten des Manesse Verlages finden Sie hier.

Weitere Informationen zu Eduard von Keyserling finden Sie hier.

Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.


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